Quelle: WLZ vom 25.06.2015.
VON ARMIN HENNIG
Korbach. Die Einladung von Autoren, deren Weitsicht durchaus Widerspruch herausfordern kann, aber auf jeden Fall den Dialog und die Toleranz fördert, gehört beim Korbacher "Lesebändchen" zur guten Tradition. Auf Anregung von Ingo Hoppmann kam der Publizist und Verleger Abraham Melzer in die Stadtbücherei und nahm im Verlauf von zwei Stunden ebenso zu seiner Kritik an der politischen Praxis Israels wie zu seiner Dauerfehde mit dem als Islamkritiker zu neuer Popularität gekommenen Polemiker Henryk M. Broder Stellung.
Bei der Vorstellung seines neuen Essaybandes "Merkel erwache, Israel vor Gericht", der die Entwicklung der letzten Jahre kritisch kommentiert, ging der "antizionistische Jude" ebenso mit der Stillstands-Agenda und Parteinahme in der Nahostpolitik der Bundesregierung ins Gericht wie mit dem seiner Ansicht nach grundlegend demokratiefeindlichen, wenn nicht gar rassistischen Selbstverständnis des Staates Israel, in dem der Begriff Hummismus zum Schimpfwort verkommen sei.
Mit dem Martin-Luther-Bezug "Ich stehe hier und kann nicht anders" begann der in Israel aufgewachsene und seit 1958 in Deutschland lebende Publizist seine Kritik an der Staatsräson Israels und forderte eine Loslösung vom zionistischen Erbe, das zu einem Apartheidsstaat geführt habe, in dem die Menschenrechte keine Geltung hätten. "Israel ist keine Demokratie, sondern ein Militärregime, das sich bei der Verfolgung der Staatsziele über das Völkerrecht hinwegsetzt", nahm Melzer Partei für die zum Opfer des Zionismus gewordenen Palästinenser.
Bei seiner Darstellung der historischen Prozesse, die bislang jede friedliche Lösung verhindert hatten, ging er weit vor die Staatsgründung 1948 zurück. Neben Theodor Herzels Anstrengungen zur Gründung eines Judenstaates um die Jahrhundertwende hätten die Dreyfuß-Affäre (1893), die Balfour-Deklaration (1917) und vor allem die Machtübernahme in Deutschland durch die Nationalsozialisten und die Verfolgung der Juden die Auswanderung nach Palästina gefördert, ehe der Holocaust ein Heimatland für die Juden zur moralischen Verpflichtung für die Welt gemacht habe.
Als Beweis für die von ihm kritisierte moralfreie Staatsräson wies Melzer auf eine Gedenkmünze von 1936 hin, die ein Abkommen der Zionisten des späteren Staatsgründers Ben-Gurions mit dem "Dritten Reich" feierte. Dieses gestattete den Juden die Ausreise nach Israel unter Mitnahme ihrer Vermögenswerte, während die Emigration in andere Länder nur unter Zurücklassung von Hab und Gut möglich gewesen sei.
Die Rettung aller Juden vor Verfolgung sei damals nicht der Anspruch gewesen. Die von den finanziell privilegierten Einwanderern mitgebrachten Vermögenswerte hätten bei Landkäufen vor der Unabhängigkeit 1948 eine große Rolle gespielt. Die Landverteilung durch die UN (52 zu 48 % zu Ungunsten der Palästinenser) habe trotzdem nicht dem damaligen Verhältnis der Einwohner entsprochen. Durch die Ausweitung Israels nach dem Sechstagekrieg und die Siedlungspraxis würden die Palästinenser, die selbst kein Land erwerben dürften, inzwischen nur noch über neun Prozent des Lands verfügen, bei wachsenden Bevölkerungszahlen.
Aus Israel, dessen Bevölkerung im Alltag und bei jedem Einkauf einen hohen Preis für die kriegerische Politik zahlen müsse, habe indessen eine Auswanderungswelle eingesetzt, die sich auch in einer inzwischen auf 50 000 Köpfe angewachsenen Kolonie in Berlin mit eigener Zeitung äußern würde.
"Wenn Israel keine 180°-Wendung in seiner Politik gegenüber den Palästinensern verfolgt, dann wird es ebenso untergehen wie 70 nach Christus", lautete Melzers Fazit der weitergedachten Entwicklung. Im Hinblick auf die Samson-Mentalität und den Autismus der aktuellen Politiker befürchtet er ein Konfliktverhalten der Atommacht, das, keine Rücksicht auf ‚ das Wohlergehen der Nachbarn oder den Rest der Welt kenne.
Die zahlreichen eingestreuten Bonmots und Zuspitzungen aus den Essays, wie etwa eine aus lauter Volksgerichtshöfen bestehende Justiz mit lauter kleinen Freislers, zeichneten ein krasses, aber keineswegs widerspruchsfreies Bild von Israel. Denn im nächsten Satz beklagte Melzer Bestrebungen der Netanjahu-Koalition, den Obersten Gerichtshof und damit die Gewaltenteilung gleich ganz abzuschaffen. Bei einer aus willigen Vollstreckern bestehenden Justiz wäre ein derartiger Schritt mit fataler Außenwirkung vollkommen überflüssig.
Allerdings mag die Widersprüchlichkeit unterschiedlichen Essays geschuldet sein. Bei seinen Empfehlungen an die Bundesregierung zur Gestaltung des Friedensprozesses lässt Melzer keine Grauzone zu. Der erste unabdingbare Schritt sei die staatliche Anerkennung Palästinas durch die Bundesrepublik, ein Schritt, den andere Mitglieder der EU bereits vollzogen hätten, sowie die Einstellung von Waffenlieferungen oder Schenkungen, wie zuletzt in Form von Atom-U-Booten geschehen. "Damit wäre ich schon zufrieden", lautet sein Fazit.